Es gibt tradierte Übereinkünfte darüber, was für die einzelne Disziplin oder Ausbildung als grundlegend angesehen wird. Diese Schriften oder Werke gelten aus diesem Grund orts- und personenunabhängig als verbindlich für Lehre und Unterricht und bilden den so genannten Kanon. Welche Schriften und Werke für eine Disziplin «kanonisch» werden oder vielleicht auch an Bedeutung verlieren, entwickelt sich über längere Zeiträume hinweg und bedarf wechselseitiger Anerkennung innerhalb der jeweiligen Fach-Communities.
Ein Kanon ist daher immer das Produkt von Diskursen, die ihn hervorbringen und es spiegeln sich in ihm die dominierenden Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft. Wissenschaftliches, auch methodisch generiertes Wissen, ist daher zeit- und gesellschaftsabhängig situiert und verändert sich im Laufe der Zeit.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem etablierten Wissenskanon ist wichtig. Dies bedeutet nicht, dass marginalisiertes Wissen für allgemeingültig erklärt wird. Folgende Fragen können einen kritischen Umgang mit dem Wissenskanon begleiten:
Im Bereich ‘Praxis_Stimmen’ auf dieser Webseite werden Ansätze besprochen, wie Wissenskanons aktiv bearbeitet werden können.
«Also ich glaube, jedes Fach hat seinen Kanon, aber jeder Kanon muss ja auch wie die Sprache permanent bearbeitet werden. Weil wir machen den Kanon zum Kanon. Und was wir sagen – kanonisch machen – das wird auch als solches angesehen in der Hochschullehrer. Also ich meine, wir sind ja an der Uni, das heisst, wir setzen ja auch diese Normen mit und darüber muss man sich doch im Klaren sein.»
Eine differenzsensible Gestaltung von Lehrplänen an Schweizer Hochschulen erfordert eine kritische Betrachtung:
All diese Fragen können auch zusammen mit den Studierenden reflektiert werden. Die Studierenden eigene Texte einbringen zu lassen, kann dazu interessante Diskussionen und Erkenntnisse schaffen. Zudem hilft die explizite machtkritische Reflexion normierende Inhalte und Ausschlüsse zu besprechen und kritisch einzuordnen.
«Also in der Methodenlehre ist das schon sehr viel klassischer, auch da kann man immer wieder darauf hinweisen, wie gewisse Erzählungen auch einen Bias haben. Wer als Vorreiter in bestimmten Sachen genannt wird, das kann man ja auch thematisieren, oder? Auch wenn man einen Text liest, der aus (einer bestimmten) Perspektive geschrieben wird. Ich denke, das ist eine wichtige Möglichkeit, dass man sich immer wieder bewusst wird, wer da schreibt, was da gelesen wird und mit welchen Anliegen, oder mit welcher Idee da geschrieben wird.»
«Es gibt bestimmte Texte, die müssen wir lesen. (Teilweise) konnten wir auswählen zwischen (diesem) und (jenem) Text. Aber ganz viele Bücher mussten wir lesen. Und eins der Bücher – das hab ich angefangen und ich musste es wirklich auf die Seite legen und ich muss mich jetzt noch…, ich muss mir jetzt überlegen, wie ich das machen möchte. Aber das Buch ist so krass sexistisch. Und wäre es mindestens das Thema vom Seminar, von der Arbeit, wäre das Thema so ‹hey, wir schauen uns jetzt problematische Bücher an und diskutieren das›, so könnte ich mindestens mit einem guten Gewissen das Buch lesen und nachher… alles dazu loswerden, aber es ist eine mündliche Prüfung von zehn Minuten, wo es um komplett was anderes geht. Und in diesen zehn Minuten wird es eh keinen Platz geben, das anzusprechen. Das weiss ich jetzt schon. Und ich weiss jetzt schon, dass ich die Arbeit leisten muss, indem ich das Buch mit allen Stellen, die problematisch sind, markiere und dann eine Mail darüber verfasse und das nachher der Institutionsleitung schicke. Mit der Bitte, ‹hey, schaut euch das doch mal an. Überlegt euch doch mal…, vielleicht gäbe es bessere Bücher zum lesen›.»
«Ja, es gibt Dozierende, die erklären sich, weshalb die Texte eher alt, weiss, männlich oder aus dem globalen Norden sind. Ich nehme es (aber) mehr so wahr wie eine Erklärung (im Sinne von): ‹Das müssen wir halt, das ist so vorgegeben›. Das finde ich sehr schade, weil (damit) eigentlich gezeigt wird, dass uns diese Problematik bewusst ist, aber wir nichts dagegen machen – oder noch nicht. Es gibt aber auch Dozierende, die zum Beispiel nachfragen, ob wir Texte einbringen möchten. Manchmal machen sie bei Moodle, das ist unsere Studienplattform, so eine Application, wo die Studierenden eigene Texte hochladen können, die interessant sind, die passen könnten. Das finde ich noch schön.»